Freiwillige helfen in Cherson unter Lebensgefahr
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Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms sind die Menschen in der Region Cherson dringend auf Hilfe angewiesen. Wegen andauernder Angriffe haben viele westliche Hilfsorganisationen die Stadt verlassen – zurück bleiben lokale Gruppen.
Valentina Vladimirnova ist gerade dabei, ihre Möbel draussen im Garten zu reinigen. Doch so schnell kann sie die nicht wieder an ihren Platz stellen. Die Holzböden in ihrem Haus sind so stark von Wasser durchtränkt, dass sie morsch wurden und herausgerissen werden mussten. Auch die Wände sind vom Wasser völlig aufgeweicht, der Verputz ist abgebröckelt. Nur die blanken Ziegelsteine verhindern, dass ihr Haus einstürzt. Die 69-Jährige ist völlig verzweifelt. «Wir haben keinen Strom und kein Wasser – wie sollen wir bloss den nächsten Winter überstehen?» Nachbar Oleg Leonov (50) zeigt seinen Garten. Vom Gemüse, das er dort züchtete, ist nichts mehr zu sehen. Selbst die Obstbäume sterben langsam ab. Doch das ist nicht seine grösste Sorge: Das Fundament von Leonovs Haus hat sich im aufgeweichten Boden abgesenkt. «Ich musste die Türen ein Stück absägen, damit sie sich wieder öffnen liessen», erzählt er. Er befürchtet, dass das ganze Haus instabil wird.
Die Menschen, die weiter unten in der Pryozerna-Strasse wohnen, hat es noch schlimmer getroffen. Hier sind ganze Häuser eingestürzt. Die Bewohner der Strasse haben sich bei einem Haus versammelt, wo sie mit Äxten und blossen Händen daran sind, die Trümmer eines eingestürzten Hauses beiseite zu räumen. Im Hintergrund hört man das Donnern der Artillerie. «Keine Sorge», sagt Leonov, «das sind unsere Jungs, die auf die Russen schiessen.»
Ökozid als neue Waffe im Krieg
Drei Wochen sind seit dem Bruch des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine vergangen. Doch in Biloserka, einem Dorf am Dnjepr-Ufer, rund fünf Autominuten von der Regionalhauptstadt Cherson entfernt, haben die Aufräumarbeiten erst so richtig begonnen. Die Menschen benötigen dringend Baumaterial. Doch die meisten westlichen Hilfsorganisationen haben die Region wegen der andauernden Angriffe durch russische Artillerie verlassen. Ein Bericht der «New York Times» legt den Schluss nahe, dass Russland für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms verantwortlich sein dürfte. Trifft das zu, hat Russland erstmals eine neue Waffe im Krieg gegen die Ukraine genutzt. Durch die Flut, die sich in der Folge über die bereits vom Krieg gezeichnete Region ergoss, entstanden unmittelbare Schäden von rund 1,5 Milliarden Dollar, wie die Regierung in Kiew schätzt. Häuser und Wohnungen von Hunderttausenden Menschen wurden zerstört. Viele Bewohnerinnen und Bewohner der Region, die sich als Selbstversorger durchschlugen, sind nun zusätzlich von Hilfslieferungen abhängig.
Gleichzeitig haben russische Truppen möglicherweise bereits die Lunte für einen nächsten Ökozid gelegt. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski warnte diese Woche davor, dass Minen beim AKW Saporischschjia eine nukleare Katastrophe wie in Fukushima auslösen könnten und ganze Landstriche verstrahlt werden könnten.
Igor Shevchenko arbeitete bis zur Besetzung der Stadt Cherson als Strafverteidiger, seine Frau am Gericht. Als die Russen Leute verhafteten, folterten und töteten und auch seine Frau zwingen wollten, russische Papiere anzunehmen, gingen sie fort ins knapp 300 Kilometer entfernte Odessa. Jetzt besucht Shevchenko Bekannte in Cherson und will in seiner Wohnung ein paar Sachen holen. Die Gelegenheit nutzt er, um die von Krieg und Flut gezeichnete Stadt zu zeigen. Ihn begleitet Julia Peters, die in Odessa aufgewachsen und mit einem Schweizer verheiratet ist. Mit ihrer NGO «Good Friends for Ukraine» hat sie Geld gesammelt, das sie nun an Menschen in der Region verteilt.
Trotz Beschuss harren freiwillige Helfer aus
Das Zentrum von Cherson ist eine Geisterstadt, in Reichweite der russischen Artillerie. Ein paar wenige Menschen sind mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Zwei Bewohnerinnen eilen schnell aus ihrer Wohnung, wo sie ein paar Sachen holten. Im riesigen Bürokomplex aus der Sowjetzeit, wo die Regionalregierung zuletzt ihren Sitz hatte, klafft ein riesiges Loch, davor liegen Trümmer. Eine Rakete schlug hier erst vor ein paar Tagen ein. Auch heute ist die Artillerie wie ein entferntes Gewitter zu hören.
Tatsächlich treffen in regelmässigen Abständen Mörser, Granaten und Raketen die Stadt, welche die russischen Truppen von der linken Seite des Dnjepr abfeuern. Am Dienstag traf ein solches Geschoss eine Gruppe von Rettern. Eine Person wurde getötet, acht zum Teil schwer verletzt. Einen Tag nach unserem Besuch wurden 32 Granaten auf die Stadt abgefeuert, dabei wurden Wohnhäuser und das Lagerhaus einer Transportfirma getroffen. Vier Personen starben, sechs wurden verletzt, darunter ein Kind.
Trotz der anhaltenden Angriffe halten junge, freiwillige Helfer in der Stadt die Stellung. Sie lagern Hilfsgüter, die aus dem ganzen Land und auch aus dem Ausland gespendet und per Lastwagen in die Stadt transportiert werden. Dort werden sie sortiert und letztlich an die rund 30’000 verbliebenen Bewohner verteilt. Etwa zehn Prozent der ursprünglichen Bevölkerung harren trotz Angriffen und Hochwasser aus. Es sind meist Menschen, die nicht wegkönnen, etwa bettlägrige ältere Personen und ihre Angehörigen. Igor Shevchenko, der sich selber auch in der NGO «Wir sind Cherson» engagiert, besucht eine Gruppe von Freiwilligen, die im Zentrum der Stadt ihr Quartier aufgeschlagen hat. Es sind Idealisten aus der Ukraine, auch Ausländer helfen mit. Sie sind gerade dabei, einen kleinen Transporter zu entladen. Im Hof tragen die Helfer Wasserflaschen und Säcke mit Lebensmitteln ins Innere des Gebäudes. Trotz der Hitze tragen alle Schutzweste und Helm.
Vom Erdgeschoss führt eine steile Treppe hinab in den Keller, wo man etwas sicherer ist. Hier haben die Freiwilligen ihren Aufenthaltsraum eingerichtet. Ein grosser Tisch, eine kleine Küche, ein grosser Kühlschrank. Das einzige Oberlicht ist zusätzlich mit 5-Liter-Wasserflaschen gesichert, damit im Fall eines Treffers das Glas nicht zu weit splittert.
«Wir haben die Leute gekannt, die beim Angriff am Dienstag getroffen wurden», sagt Dima Reschnio, der zusammen mit Alina Shemediuk im Aufenthaltsraum sitzt. Am Mittwoch hätte ihn fast dasselbe Schicksal ereilt: «Ich war mit einem Transporter unterwegs, als nur ein paar Meter vor mir eine Granate einschlug und einen Reifen zerfetzte», berichtet er. Reschnio musste sich entscheiden: Fährt er mit dem kaputten Reifen weiter und riskiert einen Unfall – oder wechselt er das Rad und riskiert, von der nächsten Granate getroffen zu werden? «Ich habe mich für die zweite Option entschieden. Ich glaube, ich habe noch nie so schnell einen Reifen gewechselt», sagt er mit einem Lachen. Trotz der Gefahr, in die sich die Leute hier begeben, herrscht bei ihnen eine seltsam gelöste Stimmung.
Die jungen Leute sind von den etablierten, westlichen Hilfsorganisationen enttäuscht. Die seien nach dem Dammbruch zwar gekommen, hätten bei den Evakuierungen geholfen. Als dann jedoch die ersten Granaten einschlugen, seien sie so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht seien. «Manche haben Lastwagen mit Gütern hierher gebracht, haben ein paar Fotos gemacht und sind dann mit dem ganzen Material wieder weggefahren», sagt Shemediuk. Von draussen ist der tiefe, dumpfe Ton eines Geschützes zu hören. Shemediuk blickt besorgt zum Fenster.
Etwas weiter vom Zentrum entfernt stehen Menschen vor einem grossen Gebäude Schlange. Drinnen sind Hilfsgüter gelagert – Kleider, Medikamente und Lebensmittel. «Die Menschen, die etwas brauchen, kommen hierhin», erklärt Vladyslav Nedostup von «Support-Kherson». Auch er hat bemerkt, wie westliche NGOs wegen der Sicherheitslage die Stadt verlassen haben. «Irgendjemand muss ja die Arbeit hier machen», sagt er.
Unterstützung aus der Schweiz
Die Freiwilligen vor Ort, die in Cherson die Stellung halten, werden indirekt durch die Schweiz unterstützt. Denn eine der wenigen, die in der Region präsent sind, ist die Nichtregierungsorganisation «Nonviolent Peaceforce» mit Sitz in Genf. 2003 in der Schweiz gegründet, ist sie darauf spezialisiert, Menschen und Organisationen mittels gewaltfreier Methoden zu schützen. Die Gruppe ist seit Beginn des Krieges in der Ukraine, unterhält ein Büro in Odessa und Aussenposten in Mikolajiw und Cherson. «In Gesprächen mit den Menschen vor Ort haben wir herausgefunden, dass wir dies am effektivsten tun, indem wir freiwillige Helfer mit Schutzausrüstung ausstatten», erklärt Kristina Preiksaityte von Nonviolent Peaceforce bei einem Treffen in Odessa.
«Die Ukrainer sind sehr gut darin, Hilfe für ihre Leute zu organisieren. Wir können diese über die Jahre gewachsenen Strukturen mit unserer Arbeit auf ein höheres Level bringen», sagt Preiksaityte. Die freiwilligen Helfer, die von der Schweizer NGO unterstützt werden, organisieren über Social Media Hilfsgüter und schicken sie in die betroffene Region. Vor Ort verteilen die Helfer unter Einsatz ihres Lebens die Sachen an die Menschen, die nicht aus der Stadt flüchten konnten. Um sich zu schützen, tragen die Helfer bei ihren Einsätzen Schutzwesten, Helme; Notfallapotheken sind stets griffbereit. Doch die kosten schnell einmal tausend Franken. Hier greift die Hilfe von Nonviolent Peaceforce.
1,4 Millionen Franken hat das Schweizer Aussendepartement in Kooperation mit Norwegen der NGO bisher zur Verfügung gestellt, um die freiwilligen Helfer von 38 Partnerorganisationen mit Schutzausrüstung auszustatten. Das rettet regelmässig Leben. «Erst vor ein paar Wochen überlebte ein Retter in Cherson nur, weil er zusätzlich einen Schutzkragen trug. Das Schrapnell-Stück blieb darin stecken», sagt Preiksaityte. Die Russen setzten in der vom Hochwasser gezeichneten Stadt zusätzlich auf eine besonders perfide Taktik, wie sie sagt: «Sie greifen rund 45 Minuten nach einem Angriff dasselbe Ziel nochmals an und wollen so die herbeigeeilten Retter treffen.» Die Schweizer NGO plant nun, für die Helfer in der Stadt einen bombensicheren Unterschlupf einzurichten. «Sie sind durch ihre Arbeit grossem psychischem Stress ausgesetzt, viele brennen aus», sagt Preiksaityte. Die Unterkunft soll ihnen die Möglichkeit geben, sich in Sicherheit von ihrer gefährlichen Arbeit zu erholen. Zumindest für ein paar Momente.